Den wunderbaren Frühlingstag heute verbrachte ich mit zeitgenössischer Kunst an außergewöhnlichen Orten – bei der Kunstbiennale Innsbruck International, die heuer zum zweiten Mal stattfindet. Thema der Ausgabe 2016: Je, …/I, …/Ich,…
Fast fünf Stunden war ich unterwegs. Das will erst einmal verarbeitet sein.
Meine erste Station ist die Einsiedelei im Kapuzinerkloster. Ein unglaublich faszinierender Ort, entworfen von Erzherzog Maximilian III. (1588-1618), genannt der Deutschmeister. Die Einsiedelei war sein Rückzugsort, ein Ein-Mann-Kloster sozusagen; sie umfasst elf Räume und ist 120 Quadratmeter groß. Beeindruckend die vom Erzherzog selbst gedrechselten Möbel im Audienz- und im Arbeitszimmer, nur noch Staunen aber angesichts der Küche und der Abstellkammer, die mit Schieferplatten getäfelt sind, Wohn- und Schlafzimmer sind mit Tuffstein ausgekleidet.
In diesem skurrilen Ambiente zeigt der Künstler und Filmemacher Guillermo Tellechea seine “Cinématons”: Drei-Minuten-Filme, in denen die Tiroler Kulturschaffenden Klaus Händl, Lissi Rettenwander und Heidrun Sandbichler einen Einblick in ihr “wahres Ich” gewähren: Händl Klaus beim Lesen, Lissi Rettenwander, indem sie den Betrachter kokett ins Visier nimmt, während Heidrun Sandbichler nur ganz kurz von hinten zu sehen ist.*
In der Einsiedelei durften leider keine Fotos gemacht werden; dafür vor dem Eingang “Einsein” von Karen Gleissner:
Weiter geht es zum Musikpavillon im Hofgarten, der – komplett abgedunkelt – mich binnen Sekunden von Frühlingsduft und Vogelgezwitscher in Hardcore stößt. Die Videoinstallation “Cantata Profana” von Matt Stokes zeigt sechs Metal-Sänger, die alles aus ihren Stimmen rausholen, ein lautes, sich überschlagendes Klanggebilde entstehen lassen – und ein fesselndes. Da werden Erinnerungen an Konzerte in früheren Tagen wach.
Ein paar Steinstufen hinab und durch eine alte Holztür geht es in die Galerie A4, bestehend aus einem kleinen Raum, an den zwei schmale, hohe anschließen. Die filigranen Arbeiten von Rachel Goodyear kontrastieren mit der Säule in der Mitte des ersten Raums, dem Gewölbe, den groben Mauern. Die Zeichnungen und Filme zeigen zerbrechliche Kreaturen, wie aus einem Traum entsprungen.
Ganz anders wieder der Kreuzgang im Servitenkloster, ein Ort der Ruhe, der Kompensation, in dem ich die eine Installation – Heidrun Sandbichlers “Beistrich” – zunächst übersehe, weil völlig gebannt von der Atmosphäre und den religiösen Werken, die andere ebenso suchen muss. “Unseen by all but me alone” von Catherine Bertola ist so fein gesponnen, dass ich mehrmals konzentriert durch den Kreuzgang streife, bevor ich die zwei Installationen ausfindig mache. Fantastisch.
Das Upcycling Studio auch wieder ein ganz besonderer Ort, der mein Entdeckerinnenherz höher schlagen lässt.
Und im ersten Stock Fotografien von Linda Fregni Nagler, die Menschen in gefährlicher Situation zeigen und die Fantasie der Betrachterin sofort in Gang setzen. Fällt der eine vom Dach, der andere von der Feuerleiter? – Mein Kopf beginnt, Geschichten zu spinnen. Die Fotos aber bleiben eine Momentaufnahme.
Meine sechste Station ist das Apothekenmuseum Winkler, ein verstecktes Kleinod in der Altstadt. Seit 1570 befindet sich die Apotheke in Familienbesitz und das kleine Museum gibt beredtes Zeugnis von der Geschichte der Heilkunde und der Pharmazie, der Geschichte dieser Apotheke. In dieses Umfeld stellt Heidrun Sandbichler drei aktuelle Arbeiten, darunter “De la Folie”.
Bezugnehmend auf das Buch “De la Folie” (Über den Wahnsinn) des französischen Mediziners Louis Florentin Calmeil (1798-1895), das sich intensiv mit Wahnvorstellungen auseinandersetzt, präsentiert die Künstlerin dieses Werk ins Spiegelschrift, macht es “unlesbar” und stellt den Blick auf das Ich zur Diskussion.
In The Soap Room, in einem herrlichen Innenhof in der Innstraße gelegen, läuft der fast siebenminütige Film “Long after Tonight” von Matt Stokes, dessen Metal-Video noch nachhallt. Er ist eine Hommage an Tanzevents, die in den 1970-er Jahren regelmäßig in Schottland stattfanden. Gedreht hat er den Film an einem Originalschauplatz: einer Ordenskirche in Dundee. Hinreißend anzuschauen, wie einstudierte Tanzschritte, individuelle Tanzstile und akrobatische Einlagen zu einem großen Ganzen verschmelzen.
Die letzte Station meines Parcours ist die Innstraße 35-37. In der kleinen Galerie gibt es Arbeiten von Lois Weinberger, Pipilotti Rist und “The Emotions of Others” von Jacob Cartwright und Nick Jordan. Eine Dokumentation, in der die “Stimme des Zweifels” und die “Stimme der Gewissheit” anhand der Mimik von Personen diskutieren, ob das menschliche Gesicht tatsächlich Emotionen widerspiegelt, einen also die Gefühle des anderen – und damit ihn – erkennen lässt oder nicht.
Nach fast fünf Stunden intensiver Auseinandersetzung mit faszinierenden Räumen und zeitgenössischen künstlerischen Positionen, die sich um das Thema “Ich” drehen, bin ich randvoll mit Eindrücken, mit Emotionen, mit Denkanstößen. Mehr geht nicht. Zwei Stationen lasse ich sausen.
Wer Innsbruck International genießen will, muss sich sputen: Nur noch morgen (20. März) ist Zeit, sich diese große Portion zeitgenössische Kunst an außergewöhnlichen Orten zu holen, dann schließt die Innsbrucker Kunstbiennale ihre Türen.
Sollte man nicht verpassen. Echt nicht.
Alle Fotos: ©Susanne Gurschler
* Aufgrund eines technischen Defekts gab es vormittags keinen Strom; habe also am Ende meiner Tour noch einmal die Einsiedelei aufgesucht, um die “Cinématons” zu sehen.