100 bzw. 99 Fragen an

Gestern – ich weiß gar nicht mehr so genau, wie wir darauf kamen; ich glaube, es ging um den immer öfter vorgebrachten „Wunsch“ von Interviewpartnern, die Fragen vorab zu erhalten, das Interview in jedem Fall gegenlesen zu wollen bzw. gleich schriftlich zu beantworten – fragte mich meine Freundin T., ob ich das nicht stattgefundene Interview von Moritz von Uslar mit Frank Castorf in der Zeit gelesen hätte. Hatte ich nicht.
Der Regiezampano Castorf, derzeit wegen seiner Ring-Inszenierung in Bayreuth in aller Munde, hatte dem Zampano des temporeichen, frechen Interviews von Uslar offensichtlich sehr kurzfristig mitteilen lassen, dass er den vereinbarten Interviewtermin nicht wahrnehmen würde. So etwas nimmt ein von Uslar natürlich nicht einfach hin. Die Zeit veröffentlichte die Fragen kurzerhand ohne Antworten. Bei mir klingelte es: von Uslar … 99 Fragen … hm.
Als ich nach Hause kam, ließ ich meinen Blick über die Buchrücken im Regal wandern. Da war es – Moritz von Uslar: 100 Fragen an, Kiepenheuer & Witsch (KiWi), 2004, 3. Auflage. Von Uslars Interviews – 100 unkonventionelle bis unverschämte Fragen gestellt in einem äußerst engen Zeitkorsett – waren zunächst im Süddeutsche-Zeitung-Magazin erschienen. Damals noch mit 100 nicht 99 Fragen. Das Format erfreute sich großer Beliebtheit, die Interviews in ein Buch zu packen, war also naheliegend. “Ein gutes Interview ist wie ein Boxkampf: Zwei Menschen treten gegeneinander an, die Sprache ist ihre Faust, der Tisch mit dem Tonbandgerät in der Mitte ist ihr Ring (…) Moritz von Uslar ist der Muhammad Ali des Interviews. Er tänzelt, er macht Faxen – und sein Gegenüber gibt sich plötzlich Blößen, die man nie vermutet hätte”, schreibt sein Kollege Christian Kämmerling im Vorwort. Von Uslar hatte große, schlagkräftige Gegner im Ring, Profis im Umgang mit Journalisten wie nur was. Einige echte Killer finden sich im Buch. George Clooney und Woody Allen etwa, Karl Lagerfeld und Heidi Klum, Mick Jagger und Hillary Rodham Clinton, Tommy Lee und … Angela Merkel. Letzte Frage: Wird ihr Vater weinen, wenn Sie endlich Bundeskanzlerin sind? Antwort: Die Frage stellt sich nicht. Das war im Jahr 2000.
Nun also Frank Castorf.
Moritz von Uslar lässt ihn gehörig auflaufen, den Verweigerer. “Frank Castorf, 61: Früher mal, vor etwa zehn Jahren, war er ein Theaterkönig, heute ist er zumindest noch ein Mythos.” – meint er in der Zeit, Und: “Seit fünf, sechs, sieben oder acht Jahren, also nun auch schon seit einiger Zeit, gilt es als ausgemachte Sache, dass dem ehemaligen König leider kaum noch etwas einfällt. Castorf-Stücke, das sind wirre, müde, vor allem lange Abende.” Krawumm. Wenige Striche aber messerscharf. Die Fragen kommen ohne Antworten natürlich auch noch schmissiger. Zack. Zack. Zack. Von Uslar lässt es krachen. 99 Mal. Meine persönlichen Highlights: 16 In zwei Sätzen, wovon handelt der “Ring”? 17 Wer ist Siegfried? 43 Mit wem kann man besser reden, mit der Eva oder der Katharina? 50 Prolo-Schnauzer, Schiebermütze, Achselhemd? 67 Im Juli 2013: Wie geht’s Ihrer kommunistischen Prägung? 90 Haben Sie eher sechs oder neun Kinder? 99 Haben Sie in all den Jahren etwas Besseres kennengelernt als den Vollrausch?
– Wer bitte braucht da noch Antworten?
Ich hab mir das Buch gleich auf die Ablage neben der Couch gelegt; griffbereit für den mörderisch-bissigen Genuss zwischendurch. Die Lücke im Regal aufzufüllen, wäre Selbstbetrug …  – Oder?

 

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